Von Terzani, Tiziano
SPIEGEL-Redakteur Tiziano
Terzani über Saigon zehn Jahre nach dem Ende des Krieges *
Die Menschen sehen gesund
und froh aus, sie sind wohlgekleidet - aber nur auf den Plakaten. Unter
Hunderten riesiger, bunter Phantasiebilder von Arbeitern, Soldaten und Kindern,
die entschlossen oder lächelnd zum Himmel aufblicken, sehen ebenso viele
hungrige, zerlumpte, kränkliche, schmutzige wirkliche Menschen auf die Erde.
Sie spähen nach einem Zigarettenstummel, einem Fetzen Papier oder etwas
Eßbarem.
Saigon feiert den zehnten
Jahrestag des Sieges vom April 1975: Öffentliche Bauten sind neu gestrichen,
Dissidenten eingesperrt, Bettler von den Hauptstraßen des Zentrums in ein Lager
am Stadtrand verbannt, damit sie das reine, das kämpferische Image des früheren
Saigon, heutige Ho-Tschi-minh-Stadt, nicht beschmutzen. Nichts aber kann die
Niedergeschlagenheit auf den Gesichtern der großen Mehrheit ihrer 3,5 Millionen
Einwohner übertuschen.
"Es ist ihr Sieg, nicht
unserer", flüstert ein Saigoner dem Fremden zu. "Für uns bedeuten die
Feierlichkeiten nur Verhaftungen und weniger Elektrizität. Die brauchen sie, um
die Porträts von Onkel Ho zu erleuchten."
"Sie" und
"wir" - die Spaltung zwischen Siegern und Besiegten ist auch zehn
Jahre nach dem Krieg nicht überbrückt.
Vor zehn Jahren, als die
staubigen Panzer mit der Vietcong-Flagge an der amerikanischen Botschaft vorbei
auf den Palast des besiegten Präsidenten Thieu zurollten, als die ersten
hageren, scheuen, jungen Guerrilleros die breite Tu-Do-Straße herunterzogen,
haben die wenigen Ausländer, die dabei waren, geweint vor Freude: Ein grausamer
Krieg war zu Ende, Vietnam schien seine Unabhängigkeit erlangt zu haben, einem
wiedervereinten Volk würden nun Frieden und Gerechtigkeit widerfahren - so
glaubten wir damals.
Frieden ist nicht eingezogen
in Indochina. Hunderte von jungen Vietnamesen fallen auf Kambodschas
Schlachtfeldern. Gerechtigkeit ist ausgeblieben, wenn Gerechtigkeit anderes
bedeutet, als daß eine Gesellschaft umgestürzt und eine Diktatur durch eine
andere ersetzt wurde.
Tiziano Terzani Vietnam 1975
Die Saigoner, kein Zweifel, leben heute schlechter,
leiden unter mehr Inkompetenz und Korruption, haben größere Angst vor der
Polizei als früher.
"Die Revolution hat
keines ihrer Versprechen gehalten", sagt ein Freund. "Sogar die Toten
wurden betrogen." Auf dem alten Bien-Hoa-Friedhof, wo viele der im Kampf
gegen den Kommunismus gefallenen vietnamesischen Soldaten begraben liegen,
wurden die meisten Gräber von Bulldozern eingeebnet - obschon sich das neue
Regime auch einen eigenen Friedhof der für die Revolution gefallenen Helden
zugelegt hat.
Noch weniger wurde das
Versprechen auf nationale Versöhnung den Lebenden gegenüber gehalten.
Im Mai 1975 war ein Offizier
aus Thieus Armee zur "Umerziehung" befohlen worden. Mit Mosquitonetz,
Zahnbürste und Reis für 30 Tage meldete er sich; und er wie ich glaubten, in 30
Tagen sei er tatsächlich wieder zurück.
"30 Tage, von wegen! Es
wurden 3289", sagt er nun; er hat noch Glück gehabt. Viele der früheren
Soldaten, Offiziere und Beamten des geschlagenen Regimes starben in den
Umerziehungslagern. Viele sind immer noch in jenen Dschungelcamps, die kommunistische
Funktionäre in Augenblicken von Unaufmerksamkeit heutzutage selber
"Konzentrationslager" nennen.
Wie viele Vietnamesen sind
dort noch interniert? Die Regierung gibt 7000 zu. Schätzungen reichen bis über
100 000. Im Jahre 1975 versprach das neue Regime jedem Vietnamesen eine Aufgabe
beim Wiederaufbau des verwüsteten Landes. Heute haben all die Tausende, die aus
den Umerziehungslagern zurückgekommen sind, keine Chance.
Die Sünde, einem
"Marionettenregime" angehört zu haben, läßt sich nicht wegwaschen. Im
Gegenteil, sie ist wie eine Krankheit, die vom Vater auf den Sohn vererbt wird:
Für "Marionetten" gibt es keine Jobs, für deren Kinder keine Plätze
in Oberschulen oder Universitäten.
Während kommunistische
Beamte, allesamt aus Nordvietnam gekommen, in die Villenviertel und
Privathäuser der alten Oberschicht des Südens eingezogen sind, wurde die
südliche Gesellschaft auf die Straße geworfen und geistert dort kümmerlich
umher wie ein verirrter, zum Aussterben verdammter Volksstamm.
Nach ihrem Sieg in
Kambodscha hatten der Steinzeitkommunist Pol Pot und die Roten Khmer ihr Volk
in zwei Kategorien eingeteilt: jene Bürger, die schon vor 1975 unter
revolutionärer Herrschaft gelebt hatten, denen man somit vertrauen konnte; und
dann die anderen, die diesen Vorzug nicht genossen hatten, also bekämpft oder
gar ausgemerzt werden mußten. "Was hier in Vietnam passiert, ist wie Pol
Pot mit Zeitlupe", meint ein Freund in Saigon.
"Wir sind tot, aber wir
können noch gehen. Ich fühle mich wie ein Gespenst aus einer anderen
Zeit", sagt ein früherer Pilot der Luftwaffe, der über acht Jahre
Umerziehungslager hinter sich hat und nun sein Heim auf einer vom Lions Club
gestifteten Bank unter dem Denkmal des Nationalhelden Tran Hung Dao hat.
Das einst lebenslustige
Saigon ist voll von solchen gespenstischen Gestalten aus der Vergangenheit.
Überall sind sie zu sehen: langes Haar, schmutzige Kleider, viele mit offenen
Wunden und Ausschlag, manche verloren umherirrend, andere mit elender Arbeit
befaßt: Teenager streifen mit Zange und Sack durch die Stadt, um Papier- und
Plastikfetzen zu sammeln. Männer von mittlerem Alter und intellektuellem
Aussehen füllen mit einer Spritze neue Tinte in alte Kugelschreiber. Andere
hocken neben einem mit Wasser gefüllten Militärhelm und flicken Fahrradreifen.
In Saigon gibt es 40 000
Fahrrad-Rikschas. Die meisten der Fahrer sind ehemalige Soldaten und Offiziere.
Sie schlafen auf Strohmatten vor dem früheren Parlament und an den Denkmälern
der Stadt. Vor einem Regenguß verkriechen sie sich in Bunker aus der Kriegszeit.
Sie stammen oft aus alten, wohlhabenden Saigoner Familien und sind nun
obdachlos und arbeitslos aus den "Neuen Wirtschaftsgebieten"
zurückgekehrt, in die sie zwangsweise verpflanzt worden waren.
1976 konnte man ein großes
Neues Wirtschaftsgebiet im Norden der Hauptstadt besuchen, wo tausend Saigoner
Familien unter flatternden roten Fahnen das Ödland in Reisfelder verwandeln
sollten. Es gab weder Wasser noch Vegetation. Nach zehnjährigen Versuchen wurde
das Experiment für hoffnungslos erklärt, die Menschen flohen in die Stadt
zurück. Von den Neuen Wirtschaftgebieten ist seitdem keine Rede mehr. Dem
Regime des Nordens ist es nicht gelungen, die Bevölkerung des Südens für sich
zu gewinnen. So leben zehn Jahre nach der Befreiung zwei Vietnams immer noch feindselig
und argwöhnisch nebeneinander her.
Selbst den vom Bürgerkrieg
gespaltenen, durch die Befreiung wiedervereinten Familien brachten diese zehn
Jahre keine Eintracht. "Mein kommunistischer Bruder hat mich als
Kapitalisten angezeigt,
um mich auszurauben",
erzählt ein Bekannter, dem früher ein Restaurant gehörte. "Als ich nach
drei Jahren Gefängnis zurückkehrte, waren die Wände meiner Wohnung voller
Löcher, denn er dachte, wir seien reich und hätten Gold versteckt, das er
finden wollte."
In Saigon ist jeder wichtige
Verwaltungsposten in Händen von Vietnamesen aus dem Norden - angefangen beim
Polizisten an der Straßenecke und beim Postbeamten, der den Verkauf von
Briefmarken überwacht. Angesichts dieser Personalpolitik fragt man sich, ob das
kommunistische Regime des Nordens die nationale Versöhnung, die es vor zehn
Jahren versprochen hat, wirklich wollte oder ob es, lange vor der Eroberung
Saigons, schon entschlossen war, die gesamte Bevölkerung des Südens als
unzuverlässig einzustufen.
Man fragt sich auch, ob
Hanoi es mit der "Umerziehung" ernst gemeint hatte oder ob diese
nicht ein Trick war, den militärischen und zivilen Apparat des vorherigen
Regimes mit einem Schlag aus den Angeln zu heben. Man fragt sich schließlich,
ob der Plan der Neuen Wirtschaftsgebiete wirklich der Absicht entsprang, neue
Arbeitsplätze für eine arbeitslose Stadtbevölkerung zu schaffen; ob er nicht
vielmehr eine billige Methode war, Tausende von Saigoner Familien aus ihren
Wohnungen zu entfernen und diese mit Familien aus dem Norden zu füllen.
Tatsache ist, daß es 1975 in
Südvietnam Tausende von Ingenieuren, Akademikern und gebildeten Leuten gab, die
bereit waren, für das neue Regime zu arbeiten, daß ihnen dieses neue Regime die
Mitarbeit aber verweigerte: eine ungeheure Vergeudung von Engagement,
Fähigkeiten und Talenten.
1975 gab es in Saigon über
2000 Ärzte. 800 zogen mit den Amerikanern davon, die Hälfte derer, die zunächst
blieben, hat das Land im Laufe der vergangenen zehn Jahre verlassen.
"Armut fürchte ich
nicht", sagt einer, der ausgehalten hat und nicht darüber klagt, daß sich
seit 1975 niemand in seiner Familie mehr ein neues Hemd hat kaufen können.
"Was aber schwer auszuhalten ist, ist das Gefühl, überflüssig zu
sein." Er verdient heute sein Brot, indem er Landsleute, die sich auf die
Flucht vorbereiten, in Englisch unterrichtet.
Über eine Million
Vietnamesen haben ihr Land seit 1975 verlassen, viele riskierten als "Boat
people" auf See ihr Leben. Durchschnittlich 2000 Vietnamesen monatlich
versuchen auch heute noch zu fliehen.
Zehn Jahre nach dem Sieg der
Kommunisten und der formellen Wiedervereinigung Vietnams sind jene
Intellektuellen des Südens am tiefsten enttäuscht, die gegen Thieus Diktatur in
der Befreiungsfront FLN gekämpft hatten oder ihr nahestanden und deshalb verfolgt
wurden.
"Alles, was die FLN
versprochen hatte, hat Hanoi zunichte gemacht, eingeschlossen die FLN
selbst", klagt ein früheres Mitglied des Vietcong.
"Die Kommunisten aus
dem Norden trauen nur sich selber. In ihren Augen waren auch wir 'Marionetten'",
sagt ein prominenter Revolutionär aus dem Süden, der 20 Jahre lang für den
Vietcong gekämpft hatte.
Keiner der Männer, die
während des Krieges als Führer des Vietcong aufgetreten waren, hat heute noch
Einfluß. Madame Nguyen Thi Binh, die charmante Außenministerin des Vietcong,
ist zwar Erziehungsministerin in Hanoi, gilt aber als "Paradeministerin
für Ausländer". Die Entscheidungen werden angeblich von ihren beiden
Stellvertretern getroffen, die dem Zentralkomitee der Partei angehören.
Sogar Tran Van Tra, der
Vietcong-General, der Saigon befreite und ein paar Jahre lang regierte, wurde
mundtot gemacht, als er es wagte, in einem Buch Hanois Version von der
Befreiung zu bestreiten. Das Buch wurde verboten. In Saigon feiern heute vier
Ausstellungen den Sieg von 1975 mit Photos, Dokumenten und Andenken, die
ausländische Delegationen ehrfurchtsvoll betrachten, auch eine aus der
Bundesrepublik, die Abzeichen mit der Inschrift "Vietnam ist unsere
Sache" auf der Brust trägt. Die Exponate sollen ausschließlich eines
beweisen: die Rolle Hanois damals und die Führerschaft der Partei heute.
Wenig wird gesagt über den
schweren Volkskrieg, den der Vietcong im Süden geführt hat. Das symbolische
Bild der Befreiung Saigons ist heute das des nordvietnamesischen Panzers, der das
eiserne Tor zu Thieus Palast niederwalzt, anstelle jenes der bäuerlichen
Vietcong-Guerrilleros, die Bambusfallen bastelten und den verlustreichen
Kleinkrieg im Hinterland führten.
"Es ist unsere eigene
Schuld. Wir meinten, wir kämpften für Unabhängigkeit und Wiedervereinigung
unseres Landes, in Wirklichkeit kämpfte Hanoi für den Sieg der kommunistischen
Diktatur", sagt nun ein katholischer Priester, der in der Opposition gegen
Thieu aktiv mitgemacht hatte.
1975 gab das Regime sich den
Anschein, als sei es bereit, künftig alle Religionen zu tolerieren. Besonders
zugeneigt schien es jenen Katholiken zu sein, die für die Revolution gekämpft
hatten. Bald nach der Befreiung Saigons erschien denn auch die katholische
Tageszeitung "Ting San" wieder auf dem Markt, von den Behörden sogar
öffentlich empfohlen. Thieu hatte erfolglos versucht, den Besitzer und
Herausgeber, Ngo Cong Duc, ermorden zu lassen, dann verbot er das Blatt.
Vor zwei Jahren wurde die
Zeitung wieder eingestellt. "Sie hat ihre historische Mission
erfüllt", kommentierte Premier Pham Van Dong in Hanoi.
Ngo Cong Duc, ein brillanter
Intellektueller, der aus dem Exil zurückgekehrt war, um sich dem neuen Regime
zur Verfügung zu stellen und beim Wiederaufbau zu helfen, malt jetzt Lackbilder
für den Export. Wie alle Vietnamesen braucht auch er eine besondere Erlaubnis,
wenn er einen Ausländer empfangen will.
Langsam, aber systematisch
haben die Kommunisten die Religionsausübung erschwert. Rebellische Katholiken
sowie Führer der Sekten Hoa Hao und Cao Dai wurden verhaftet und zum Schweigen
gebracht, das berühmte An-Quang-Kloster, Zentrum buddhistischer Opposition
gegen Thieu, ist streng überwacht, sein geistiger Führer, der Mönch Thich Tri
Quang, unter Hausarrest gestellt.
Ohne allzuviel Widerstand
hervorzurufen, hat der Partei- und Verwaltungsapparat Nordvietnams im Süden Fuß
gefaßt. In den ersten Jahren gab es noch Nester bewaffneten Widerstandes gegen
die neuen Herren. Ein Untergrundsender hielt die Hoffnung auf eine Wende noch
eine Zeitlang aufrecht. All das ist vorbei. Das Regime trifft auf keine aktive
Opposition mehr. Die Menschen haben sich damit abgefunden, daß sie mit diesem
System fertig werden müssen.
Ein Polizist pro hundert
Familien und ein Netz schwer erkenntlicher Informanten hält eine Bevölkerung
unter Kontrolle, die ohnehin eine Erlaubnis braucht, um reisen oder bei
Freunden übernachten zu können. "Con An" (öffentliche Sicherheit) ist
für alle Vietnamesen die gefürchtetste Institution.
"Glücklicherweise sind
sie käuflich", sagt ein Händler ironisch über die Polizisten. Alles hat
seinen Preis, von einem Ausreisevisum bis zur Zuteilung eines Arbeitsplatzes.
Mit ein paar Geldscheinen
lassen sich Strafen umgehen: Ein Radfahrer, der angehalten wird, weil er das
Rot der Ampel nicht beachtet hat, drückt dem Polizisten 20 Dong in die Hand.
"Nein, nein", sagt er, "ich muß Onkel Ho direkt in die Augen
sehen." Der Fahrer versteht und bietet statt der 20-Dong-Note, auf der Ho
Tschi-minh im Profil zu sehen ist, eine 50-Dong-Note dar, die sein volles
Antlitz zeigt. Der Polizist greift zu.
Korruption ist die Regel,
nicht die Ausnahme. "Lenin sagte, Sozialismus sei Sowjetmacht plus
Elektrifizierung", scherzt ein Freund. "In diesem Regime ist er
Polizeimacht plus Schwarzmarkt."
Allgemein akzeptiert ist,
daß jeder Mensch versucht, sich über Wasser zu halten, so gut er kann. So
verkaufen Schullehrer ihren Schülern Gebäck, stehlen Soldaten Benzin aus
Militär-Lkw, beschlagnahmen gewissenhafte Zollbeamte am Flughafen alle
Videokassetten der Einreisenden: angeblich, um deren Inhalt zu prüfen, in
Wirklichkeit, um Privatvorführungen im nahe gelegenen Tong-Binh-Hotel zu
organisieren. Eintritt: 50 Dong pro Person.
Parteikader haben im Süden
die Sitte des Nordens eingeführt, in ihren Wohnungen
Schweine zu züchten und sie
mit Staatsfutter zu mästen.
So ist das einst elegante
Saigon aufs Schwein gekommen. Überall, wo Kader wohnen, hört man Schweine
grunzen und schnüffeln, und selbst hohe Generale der Armee legen Wert darauf,
ein Schwein in ihrem Wohnzimmer zu haben, wenn sie Gäste zu Tisch laden: Das
Tier dient als Erklärung für den hohen Lebensstandard, der sonst auf
Devisengeschäfte oder gar Opiumhandel in Laos und Kambodscha zurückzuführen
wäre.
"1975 meinte ich, das
neue Regime würde entweder rosa oder rot", sagt ein früherer Rechtsanwalt,
der sich damals weigerte, das Land zu verlassen. "Nie hätte ich gedacht,
daß es grau sein könnte. Dieses Regime hat unseren Herzen alle Lust genommen.
Das ist unsere Tragik."
Der Ruf moralischer
Überlegenheit, den die Kommunisten gleich nach der Befreiung genossen,
verblaßte, als das Volk merkte, "daß ihr Verhalten von Eigennutz diktiert
wird, ihre Ethik Heuchelei ist, und daß sie niemals das tun, was sie
sagen", so eine Studentin, die am Tage der Befreiung 18 Jahre alt war.
Während die Prostituierten
des alten Saigon immer noch in einem Heim umerzogen werden, hat
Ho-Tschi-minh-Stadt inzwischen eigene Prostituierte, von denen einige sogar aus
Hanoi kommen. Ihre Anzahl ist selbstverständlich der verminderten Kundschaft
angepaßt, und das Preissystem funktioniert anders als früher. Statt der Concierge
müssen nun die Sicherheitspolizisten der Hotels bezahlt werden, "und der
Preis steigt mit der Etage, auf der man zu lieben wünscht", sagt ein
regelmäßiger Besucher Saigons.
Die Diskrepanz zwischen den
öffentlichen Erklärungen des Regimes und der Wirklichkeit ist unübersehbar. An
sich ist die Gesundheitsfürsorge für alle frei, doch Medikamente gibt es nicht
in den Krankenhäusern. "Wer sich operieren lassen will, kauft sich am
besten erst mal auf dem schwarzen Markt Betäubungsmittel und Faden", sagt
ein Arzt.
In der Wirtschaft haben die
Kommunisten ihre größten Fehler gemacht. Zuerst schlossen sie alle Privatläden
und verfolgten die Kaufleute der Saigoner Chinesenstadt Cholon als Spekulanten.
Dann aber, als sie merkten, daß das Land dem Zusammenbruch nahe kam, lockerten
sie den Druck und forderten die Chinesen sogar auf, wieder aktiv zu werden.
"Die Lotterie, die
Lotterie ist unsere letzte Hoffnung", ruft eine Zigarettenverkäuferin.
Statt einer pro Woche, wie zu Thieus Zeiten, gibt es in Saigon heute drei Lotterien
pro Tag. Horden von jungen Leuten laufen morgens früh mit Packen von
Lotterielosen durch die Stadt, zehn Dong das Stück, 100 000 Dong der erste
Preis. Nachmittags um fünf erstarrt dann die ganze Stadt, wenn die Gewinnzahlen
mit weißer Kreide auf die Schiefertafeln der Märkte und Straßen geschrieben
werden.
Die Vietnamesen haben ein
Einkommen von 102 US-Dollar pro Kopf im Jahr. Armut und Unzufriedenheit
("Selbst das Politbüro ist unzufrieden", scherzt ein
Parteifunktionär), andauernde Versorgungsengpässe und Krieg sind Teil des
täglichen Lebens des Bürgers geworden.
"Wir haben unsere
Unabhängigkeit erstritten, wir haben das Land wiedervereinigt, und nun hat die
vietnamesische Rasse auch neues Land im Westen erschlossen", sagt ein
Professor aus Saigon, dem die kriegerischen Erfolge der Kommunisten imponieren.
Unter dem Vorwand, Laos
verteidigen zu wollen, haben die Vietnamesen 40 000 Soldaten dort stationiert;
unter dem Vorwand, Kambodscha von Pol Pots Tyrannei zu befreien, haben sie eine
Besatzungsarmee von 180 000 Soldaten dort stehen.
Vietnam verdankt seine
äußeren Erfolge in der Tat der eigenen Ausdauer, aber auch einer erstaunlichen
Fähigkeit zum Manövrieren: Unter dem Druck der Supermacht USA, als China seine
Hilfe einstellte, warf Vietnam sich in die Arme Moskaus. Heute, wo Chinesen und
Russen einander wieder näherkommen, versuchen die Vietnamesen, amerikanische
Hilfe zu erhalten.
Geschickt nutzen sie dabei
das amerikanische Schuldgefühl Vietnam gegenüber - und zeigen sich großzügig.
Über 150 amerikanische Journalisten wurden aus Anlaß der Zehn-Jahr-Feier zu
einer gut orchestrierten und gründlich bewachten Besichtigung ins Land
eingeladen.
Die amerikanische
Fernsehgesellschaft NBC plant für die Woche der Feierlichkeiten eine tägliche
Live-Sendung von Saigon aus, über einen Satelliten, dessen Bodenstation in
einem gecharterten Jumbo eingeflogen wurde. Die Konkurrenz ABC versucht, mit
einem von den Sowjets hergestellten, aber noch nicht funktionierenden
Satelliten, Lotus 2, mitzuhalten. "Die Russen müssen zusehen, daß er
funkt", sagen die Vietnamesen, "es geht um das sozialistische
Prestige."
Für die Reportagen über das
Jubelfest zu Amerikas Schmach nehmen die Vietnamesen den Amerikanern
erstaunliche Summen ab: 100 US-Dollar pro Tag für einen Dolmetscher, ein
Interview mit einem Fabrikdirektor kostet 200, mit dessen Stellvertreter 100
Dollar.
"Sie haben MiG-Bomber
und Panzer im Kampf gefilmt, und Sie wissen, was Benzin kostet", sagte der
Pressechef der Regierung in Hanoi zu einem amerikanischen Fernsehkorrespondenten
angesichts einer Rechnung von über 6000 Dollar, die der TV-Mann präsentiert
bekam.
Wenn Washington ihnen nicht
mit wirtschaftlicher Hilfe in großem Rahmen an die Seite tritt, werden die
Saigoner im an sich reichen Südvietnam noch lange darben müssen.
"Wohlstand?" sagt ein hoher vietnamesischer Beamter. "Den erlebt
die Generation unserer Enkel oder ihrer Kinder."
Diese Kinder werden streng,
uniform und genau nach Linie erzogen. Alle Schulbücher, die vor 1975 gedruckt
wurden, sind verboten. In der alten französischen Bibliothek, deren Direktor
der frühere Sicherheitsboß Von Vung Tao ist, sind nur 71 Leser zugelassen.
Die Kinder marschieren, sie
üben sich im Schießen, sie bereiten sich vor, ihr Vaterland zu verteidigen. Sie
wachsen heran ohne Sehnsucht nach einer anderen Welt, ohne
Vergleichsmöglichkeiten, stolz, einer Rasse anzugehören, die drei große
Kulturnationen - Chinesen, Franzosen und Amerikaner - besiegt hat.
Bald werden so aufgewachsene
Jugendliche aus dem Süden, die jetzt in die Armee eintreten, um von
Nordvietnamesen gedrillt zu werden, hart und zäh sein wie ihre Altersgenossen
aus Hanoi. Noch ein paar Jahrzehnte, und Vietnam dürfte tatsächlich
wiedervereinigt sein - durch einen einzigen Menschentypus.
Bis dahin wird eine ganze
Generation von Gespenstern, die heute noch den Süden bevölkert und in dem neuen
Regime nichts Positives sieht, verschwunden sein.
"Gibt's wirklich nichts
Positives?". Auf diese Frage antwortet ein alter Freund: "Doch, doch,
die Kommunisten haben meine Augen geschärft. Vor 1975 brauchte ich eine Brille,
jetzt kann ich auch ohne sie sehen."
DER SPIEGEL 18/1985
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