Donnerstag, 30. April 2015

Sogar die Toten wurden betrogen

                                                                               Von Terzani, Tiziano

SPIEGEL-Redakteur Tiziano Terzani über Saigon zehn Jahre nach dem Ende des Krieges *
Die Menschen sehen gesund und froh aus, sie sind wohlgekleidet - aber nur auf den Plakaten. Unter Hunderten riesiger, bunter Phantasiebilder von Arbeitern, Soldaten und Kindern, die entschlossen oder lächelnd zum Himmel aufblicken, sehen ebenso viele hungrige, zerlumpte, kränkliche, schmutzige wirkliche Menschen auf die Erde. Sie spähen nach einem Zigarettenstummel, einem Fetzen Papier oder etwas Eßbarem.
Saigon feiert den zehnten Jahrestag des Sieges vom April 1975: Öffentliche Bauten sind neu gestrichen, Dissidenten eingesperrt, Bettler von den Hauptstraßen des Zentrums in ein Lager am Stadtrand verbannt, damit sie das reine, das kämpferische Image des früheren Saigon, heutige Ho-Tschi-minh-Stadt, nicht beschmutzen. Nichts aber kann die Niedergeschlagenheit auf den Gesichtern der großen Mehrheit ihrer 3,5 Millionen Einwohner übertuschen.
"Es ist ihr Sieg, nicht unserer", flüstert ein Saigoner dem Fremden zu. "Für uns bedeuten die Feierlichkeiten nur Verhaftungen und weniger Elektrizität. Die brauchen sie, um die Porträts von Onkel Ho zu erleuchten."
"Sie" und "wir" - die Spaltung zwischen Siegern und Besiegten ist auch zehn Jahre nach dem Krieg nicht überbrückt.

Vor zehn Jahren, als die staubigen Panzer mit der Vietcong-Flagge an der amerikanischen Botschaft vorbei auf den Palast des besiegten Präsidenten Thieu zurollten, als die ersten hageren, scheuen, jungen Guerrilleros die breite Tu-Do-Straße herunterzogen, haben die wenigen Ausländer, die dabei waren, geweint vor Freude: Ein grausamer Krieg war zu Ende, Vietnam schien seine Unabhängigkeit erlangt zu haben, einem wiedervereinten Volk würden nun Frieden und Gerechtigkeit widerfahren - so glaubten wir damals.

Frieden ist nicht eingezogen in Indochina. Hunderte von jungen Vietnamesen fallen auf Kambodschas Schlachtfeldern. Gerechtigkeit ist ausgeblieben, wenn Gerechtigkeit anderes bedeutet, als daß eine Gesellschaft umgestürzt und eine Diktatur durch eine andere ersetzt wurde.

Tiziano Terzani Vietnam 1975

 Die Saigoner, kein Zweifel, leben heute schlechter, leiden unter mehr Inkompetenz und Korruption, haben größere Angst vor der Polizei als früher.

"Die Revolution hat keines ihrer Versprechen gehalten", sagt ein Freund. "Sogar die Toten wurden betrogen." Auf dem alten Bien-Hoa-Friedhof, wo viele der im Kampf gegen den Kommunismus gefallenen vietnamesischen Soldaten begraben liegen, wurden die meisten Gräber von Bulldozern eingeebnet - obschon sich das neue Regime auch einen eigenen Friedhof der für die Revolution gefallenen Helden zugelegt hat.
Noch weniger wurde das Versprechen auf nationale Versöhnung den Lebenden gegenüber gehalten.

Im Mai 1975 war ein Offizier aus Thieus Armee zur "Umerziehung" befohlen worden. Mit Mosquitonetz, Zahnbürste und Reis für 30 Tage meldete er sich; und er wie ich glaubten, in 30 Tagen sei er tatsächlich wieder zurück.
"30 Tage, von wegen! Es wurden 3289", sagt er nun; er hat noch Glück gehabt. Viele der früheren Soldaten, Offiziere und Beamten des geschlagenen Regimes starben in den Umerziehungslagern. Viele sind immer noch in jenen Dschungelcamps, die kommunistische Funktionäre in Augenblicken von Unaufmerksamkeit heutzutage selber "Konzentrationslager" nennen.

Wie viele Vietnamesen sind dort noch interniert? Die Regierung gibt 7000 zu. Schätzungen reichen bis über 100 000. Im Jahre 1975 versprach das neue Regime jedem Vietnamesen eine Aufgabe beim Wiederaufbau des verwüsteten Landes. Heute haben all die Tausende, die aus den Umerziehungslagern zurückgekommen sind, keine Chance.
Die Sünde, einem "Marionettenregime" angehört zu haben, läßt sich nicht wegwaschen. Im Gegenteil, sie ist wie eine Krankheit, die vom Vater auf den Sohn vererbt wird: Für "Marionetten" gibt es keine Jobs, für deren Kinder keine Plätze in Oberschulen oder Universitäten.
Während kommunistische Beamte, allesamt aus Nordvietnam gekommen, in die Villenviertel und Privathäuser der alten Oberschicht des Südens eingezogen sind, wurde die südliche Gesellschaft auf die Straße geworfen und geistert dort kümmerlich umher wie ein verirrter, zum Aussterben verdammter Volksstamm.

Nach ihrem Sieg in Kambodscha hatten der Steinzeitkommunist Pol Pot und die Roten Khmer ihr Volk in zwei Kategorien eingeteilt: jene Bürger, die schon vor 1975 unter revolutionärer Herrschaft gelebt hatten, denen man somit vertrauen konnte; und dann die anderen, die diesen Vorzug nicht genossen hatten, also bekämpft oder gar ausgemerzt werden mußten. "Was hier in Vietnam passiert, ist wie Pol Pot mit Zeitlupe", meint ein Freund in Saigon.
"Wir sind tot, aber wir können noch gehen. Ich fühle mich wie ein Gespenst aus einer anderen Zeit", sagt ein früherer Pilot der Luftwaffe, der über acht Jahre Umerziehungslager hinter sich hat und nun sein Heim auf einer vom Lions Club gestifteten Bank unter dem Denkmal des Nationalhelden Tran Hung Dao hat.

Das einst lebenslustige Saigon ist voll von solchen gespenstischen Gestalten aus der Vergangenheit. Überall sind sie zu sehen: langes Haar, schmutzige Kleider, viele mit offenen Wunden und Ausschlag, manche verloren umherirrend, andere mit elender Arbeit befaßt: Teenager streifen mit Zange und Sack durch die Stadt, um Papier- und Plastikfetzen zu sammeln. Männer von mittlerem Alter und intellektuellem Aussehen füllen mit einer Spritze neue Tinte in alte Kugelschreiber. Andere hocken neben einem mit Wasser gefüllten Militärhelm und flicken Fahrradreifen.

In Saigon gibt es 40 000 Fahrrad-Rikschas. Die meisten der Fahrer sind ehemalige Soldaten und Offiziere. Sie schlafen auf Strohmatten vor dem früheren Parlament und an den Denkmälern der Stadt. Vor einem Regenguß verkriechen sie sich in Bunker aus der Kriegszeit. Sie stammen oft aus alten, wohlhabenden Saigoner Familien und sind nun obdachlos und arbeitslos aus den "Neuen Wirtschaftsgebieten" zurückgekehrt, in die sie zwangsweise verpflanzt worden waren.
1976 konnte man ein großes Neues Wirtschaftsgebiet im Norden der Hauptstadt besuchen, wo tausend Saigoner Familien unter flatternden roten Fahnen das Ödland in Reisfelder verwandeln sollten. Es gab weder Wasser noch Vegetation. Nach zehnjährigen Versuchen wurde das Experiment für hoffnungslos erklärt, die Menschen flohen in die Stadt zurück. Von den Neuen Wirtschaftgebieten ist seitdem keine Rede mehr. Dem Regime des Nordens ist es nicht gelungen, die Bevölkerung des Südens für sich zu gewinnen. So leben zehn Jahre nach der Befreiung zwei Vietnams immer noch feindselig und argwöhnisch nebeneinander her.

Selbst den vom Bürgerkrieg gespaltenen, durch die Befreiung wiedervereinten Familien brachten diese zehn Jahre keine Eintracht. "Mein kommunistischer Bruder hat mich als Kapitalisten angezeigt,
um mich auszurauben", erzählt ein Bekannter, dem früher ein Restaurant gehörte. "Als ich nach drei Jahren Gefängnis zurückkehrte, waren die Wände meiner Wohnung voller Löcher, denn er dachte, wir seien reich und hätten Gold versteckt, das er finden wollte."
In Saigon ist jeder wichtige Verwaltungsposten in Händen von Vietnamesen aus dem Norden - angefangen beim Polizisten an der Straßenecke und beim Postbeamten, der den Verkauf von Briefmarken überwacht. Angesichts dieser Personalpolitik fragt man sich, ob das kommunistische Regime des Nordens die nationale Versöhnung, die es vor zehn Jahren versprochen hat, wirklich wollte oder ob es, lange vor der Eroberung Saigons, schon entschlossen war, die gesamte Bevölkerung des Südens als unzuverlässig einzustufen.
Man fragt sich auch, ob Hanoi es mit der "Umerziehung" ernst gemeint hatte oder ob diese nicht ein Trick war, den militärischen und zivilen Apparat des vorherigen Regimes mit einem Schlag aus den Angeln zu heben. Man fragt sich schließlich, ob der Plan der Neuen Wirtschaftsgebiete wirklich der Absicht entsprang, neue Arbeitsplätze für eine arbeitslose Stadtbevölkerung zu schaffen; ob er nicht vielmehr eine billige Methode war, Tausende von Saigoner Familien aus ihren Wohnungen zu entfernen und diese mit Familien aus dem Norden zu füllen.

Tatsache ist, daß es 1975 in Südvietnam Tausende von Ingenieuren, Akademikern und gebildeten Leuten gab, die bereit waren, für das neue Regime zu arbeiten, daß ihnen dieses neue Regime die Mitarbeit aber verweigerte: eine ungeheure Vergeudung von Engagement, Fähigkeiten und Talenten.
1975 gab es in Saigon über 2000 Ärzte. 800 zogen mit den Amerikanern davon, die Hälfte derer, die zunächst blieben, hat das Land im Laufe der vergangenen zehn Jahre verlassen.
"Armut fürchte ich nicht", sagt einer, der ausgehalten hat und nicht darüber klagt, daß sich seit 1975 niemand in seiner Familie mehr ein neues Hemd hat kaufen können. "Was aber schwer auszuhalten ist, ist das Gefühl, überflüssig zu sein." Er verdient heute sein Brot, indem er Landsleute, die sich auf die Flucht vorbereiten, in Englisch unterrichtet.
Über eine Million Vietnamesen haben ihr Land seit 1975 verlassen, viele riskierten als "Boat people" auf See ihr Leben. Durchschnittlich 2000 Vietnamesen monatlich versuchen auch heute noch zu fliehen.

Zehn Jahre nach dem Sieg der Kommunisten und der formellen Wiedervereinigung Vietnams sind jene Intellektuellen des Südens am tiefsten enttäuscht, die gegen Thieus Diktatur in der Befreiungsfront FLN gekämpft hatten oder ihr nahestanden und deshalb verfolgt wurden.
"Alles, was die FLN versprochen hatte, hat Hanoi zunichte gemacht, eingeschlossen die FLN selbst", klagt ein früheres Mitglied des Vietcong.
"Die Kommunisten aus dem Norden trauen nur sich selber. In ihren Augen waren auch wir 'Marionetten'", sagt ein prominenter Revolutionär aus dem Süden, der 20 Jahre lang für den Vietcong gekämpft hatte.
Keiner der Männer, die während des Krieges als Führer des Vietcong aufgetreten waren, hat heute noch Einfluß. Madame Nguyen Thi Binh, die charmante Außenministerin des Vietcong, ist zwar Erziehungsministerin in Hanoi, gilt aber als "Paradeministerin für Ausländer". Die Entscheidungen werden angeblich von ihren beiden Stellvertretern getroffen, die dem Zentralkomitee der Partei angehören.
Sogar Tran Van Tra, der Vietcong-General, der Saigon befreite und ein paar Jahre lang regierte, wurde mundtot gemacht, als er es wagte, in einem Buch Hanois Version von der Befreiung zu bestreiten. Das Buch wurde verboten. In Saigon feiern heute vier Ausstellungen den Sieg von 1975 mit Photos, Dokumenten und Andenken, die ausländische Delegationen ehrfurchtsvoll betrachten, auch eine aus der Bundesrepublik, die Abzeichen mit der Inschrift "Vietnam ist unsere Sache" auf der Brust trägt. Die Exponate sollen ausschließlich eines beweisen: die Rolle Hanois damals und die Führerschaft der Partei heute.

Wenig wird gesagt über den schweren Volkskrieg, den der Vietcong im Süden geführt hat. Das symbolische Bild der Befreiung Saigons ist heute das des nordvietnamesischen Panzers, der das eiserne Tor zu Thieus Palast niederwalzt, anstelle jenes der bäuerlichen Vietcong-Guerrilleros, die Bambusfallen bastelten und den verlustreichen Kleinkrieg im Hinterland führten.
"Es ist unsere eigene Schuld. Wir meinten, wir kämpften für Unabhängigkeit und Wiedervereinigung unseres Landes, in Wirklichkeit kämpfte Hanoi für den Sieg der kommunistischen Diktatur", sagt nun ein katholischer Priester, der in der Opposition gegen Thieu aktiv mitgemacht hatte.
1975 gab das Regime sich den Anschein, als sei es bereit, künftig alle Religionen zu tolerieren. Besonders zugeneigt schien es jenen Katholiken zu sein, die für die Revolution gekämpft hatten. Bald nach der Befreiung Saigons erschien denn auch die katholische Tageszeitung "Ting San" wieder auf dem Markt, von den Behörden sogar öffentlich empfohlen. Thieu hatte erfolglos versucht, den Besitzer und Herausgeber, Ngo Cong Duc, ermorden zu lassen, dann verbot er das Blatt.

Vor zwei Jahren wurde die Zeitung wieder eingestellt. "Sie hat ihre historische Mission erfüllt", kommentierte Premier Pham Van Dong in Hanoi.
Ngo Cong Duc, ein brillanter Intellektueller, der aus dem Exil zurückgekehrt war, um sich dem neuen Regime zur Verfügung zu stellen und beim Wiederaufbau zu helfen, malt jetzt Lackbilder für den Export. Wie alle Vietnamesen braucht auch er eine besondere Erlaubnis, wenn er einen Ausländer empfangen will.
Langsam, aber systematisch haben die Kommunisten die Religionsausübung erschwert. Rebellische Katholiken sowie Führer der Sekten Hoa Hao und Cao Dai wurden verhaftet und zum Schweigen gebracht, das berühmte An-Quang-Kloster, Zentrum buddhistischer Opposition gegen Thieu, ist streng überwacht, sein geistiger Führer, der Mönch Thich Tri Quang, unter Hausarrest gestellt.
Ohne allzuviel Widerstand hervorzurufen, hat der Partei- und Verwaltungsapparat Nordvietnams im Süden Fuß gefaßt. In den ersten Jahren gab es noch Nester bewaffneten Widerstandes gegen die neuen Herren. Ein Untergrundsender hielt die Hoffnung auf eine Wende noch eine Zeitlang aufrecht. All das ist vorbei. Das Regime trifft auf keine aktive Opposition mehr. Die Menschen haben sich damit abgefunden, daß sie mit diesem System fertig werden müssen.

Ein Polizist pro hundert Familien und ein Netz schwer erkenntlicher Informanten hält eine Bevölkerung unter Kontrolle, die ohnehin eine Erlaubnis braucht, um reisen oder bei Freunden übernachten zu können. "Con An" (öffentliche Sicherheit) ist für alle Vietnamesen die gefürchtetste Institution.
"Glücklicherweise sind sie käuflich", sagt ein Händler ironisch über die Polizisten. Alles hat seinen Preis, von einem Ausreisevisum bis zur Zuteilung eines Arbeitsplatzes.
Mit ein paar Geldscheinen lassen sich Strafen umgehen: Ein Radfahrer, der angehalten wird, weil er das Rot der Ampel nicht beachtet hat, drückt dem Polizisten 20 Dong in die Hand. "Nein, nein", sagt er, "ich muß Onkel Ho direkt in die Augen sehen." Der Fahrer versteht und bietet statt der 20-Dong-Note, auf der Ho Tschi-minh im Profil zu sehen ist, eine 50-Dong-Note dar, die sein volles Antlitz zeigt. Der Polizist greift zu.
Korruption ist die Regel, nicht die Ausnahme. "Lenin sagte, Sozialismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung", scherzt ein Freund. "In diesem Regime ist er Polizeimacht plus Schwarzmarkt."
Allgemein akzeptiert ist, daß jeder Mensch versucht, sich über Wasser zu halten, so gut er kann. So verkaufen Schullehrer ihren Schülern Gebäck, stehlen Soldaten Benzin aus Militär-Lkw, beschlagnahmen gewissenhafte Zollbeamte am Flughafen alle Videokassetten der Einreisenden: angeblich, um deren Inhalt zu prüfen, in Wirklichkeit, um Privatvorführungen im nahe gelegenen Tong-Binh-Hotel zu organisieren. Eintritt: 50 Dong pro Person.

Parteikader haben im Süden die Sitte des Nordens eingeführt, in ihren Wohnungen
Schweine zu züchten und sie mit Staatsfutter zu mästen.
So ist das einst elegante Saigon aufs Schwein gekommen. Überall, wo Kader wohnen, hört man Schweine grunzen und schnüffeln, und selbst hohe Generale der Armee legen Wert darauf, ein Schwein in ihrem Wohnzimmer zu haben, wenn sie Gäste zu Tisch laden: Das Tier dient als Erklärung für den hohen Lebensstandard, der sonst auf Devisengeschäfte oder gar Opiumhandel in Laos und Kambodscha zurückzuführen wäre.
"1975 meinte ich, das neue Regime würde entweder rosa oder rot", sagt ein früherer Rechtsanwalt, der sich damals weigerte, das Land zu verlassen. "Nie hätte ich gedacht, daß es grau sein könnte. Dieses Regime hat unseren Herzen alle Lust genommen. Das ist unsere Tragik."
Der Ruf moralischer Überlegenheit, den die Kommunisten gleich nach der Befreiung genossen, verblaßte, als das Volk merkte, "daß ihr Verhalten von Eigennutz diktiert wird, ihre Ethik Heuchelei ist, und daß sie niemals das tun, was sie sagen", so eine Studentin, die am Tage der Befreiung 18 Jahre alt war.

Während die Prostituierten des alten Saigon immer noch in einem Heim umerzogen werden, hat Ho-Tschi-minh-Stadt inzwischen eigene Prostituierte, von denen einige sogar aus Hanoi kommen. Ihre Anzahl ist selbstverständlich der verminderten Kundschaft angepaßt, und das Preissystem funktioniert anders als früher. Statt der Concierge müssen nun die Sicherheitspolizisten der Hotels bezahlt werden, "und der Preis steigt mit der Etage, auf der man zu lieben wünscht", sagt ein regelmäßiger Besucher Saigons.
Die Diskrepanz zwischen den öffentlichen Erklärungen des Regimes und der Wirklichkeit ist unübersehbar. An sich ist die Gesundheitsfürsorge für alle frei, doch Medikamente gibt es nicht in den Krankenhäusern. "Wer sich operieren lassen will, kauft sich am besten erst mal auf dem schwarzen Markt Betäubungsmittel und Faden", sagt ein Arzt.

In der Wirtschaft haben die Kommunisten ihre größten Fehler gemacht. Zuerst schlossen sie alle Privatläden und verfolgten die Kaufleute der Saigoner Chinesenstadt Cholon als Spekulanten. Dann aber, als sie merkten, daß das Land dem Zusammenbruch nahe kam, lockerten sie den Druck und forderten die Chinesen sogar auf, wieder aktiv zu werden.
"Die Lotterie, die Lotterie ist unsere letzte Hoffnung", ruft eine Zigarettenverkäuferin. Statt einer pro Woche, wie zu Thieus Zeiten, gibt es in Saigon heute drei Lotterien pro Tag. Horden von jungen Leuten laufen morgens früh mit Packen von Lotterielosen durch die Stadt, zehn Dong das Stück, 100 000 Dong der erste Preis. Nachmittags um fünf erstarrt dann die ganze Stadt, wenn die Gewinnzahlen mit weißer Kreide auf die Schiefertafeln der Märkte und Straßen geschrieben werden.

Die Vietnamesen haben ein Einkommen von 102 US-Dollar pro Kopf im Jahr. Armut und Unzufriedenheit ("Selbst das Politbüro ist unzufrieden", scherzt ein Parteifunktionär), andauernde Versorgungsengpässe und Krieg sind Teil des täglichen Lebens des Bürgers geworden.
"Wir haben unsere Unabhängigkeit erstritten, wir haben das Land wiedervereinigt, und nun hat die vietnamesische Rasse auch neues Land im Westen erschlossen", sagt ein Professor aus Saigon, dem die kriegerischen Erfolge der Kommunisten imponieren.
Unter dem Vorwand, Laos verteidigen zu wollen, haben die Vietnamesen 40 000 Soldaten dort stationiert; unter dem Vorwand, Kambodscha von Pol Pots Tyrannei zu befreien, haben sie eine Besatzungsarmee von 180 000 Soldaten dort stehen.
Vietnam verdankt seine äußeren Erfolge in der Tat der eigenen Ausdauer, aber auch einer erstaunlichen Fähigkeit zum Manövrieren: Unter dem Druck der Supermacht USA, als China seine Hilfe einstellte, warf Vietnam sich in die Arme Moskaus. Heute, wo Chinesen und Russen einander wieder näherkommen, versuchen die Vietnamesen, amerikanische Hilfe zu erhalten.

Geschickt nutzen sie dabei das amerikanische Schuldgefühl Vietnam gegenüber - und zeigen sich großzügig. Über 150 amerikanische Journalisten wurden aus Anlaß der Zehn-Jahr-Feier zu einer gut orchestrierten und gründlich bewachten Besichtigung ins Land eingeladen.
Die amerikanische Fernsehgesellschaft NBC plant für die Woche der Feierlichkeiten eine tägliche Live-Sendung von Saigon aus, über einen Satelliten, dessen Bodenstation in einem gecharterten Jumbo eingeflogen wurde. Die Konkurrenz ABC versucht, mit einem von den Sowjets hergestellten, aber noch nicht funktionierenden Satelliten, Lotus 2, mitzuhalten. "Die Russen müssen zusehen, daß er funkt", sagen die Vietnamesen, "es geht um das sozialistische Prestige."
Für die Reportagen über das Jubelfest zu Amerikas Schmach nehmen die Vietnamesen den Amerikanern erstaunliche Summen ab: 100 US-Dollar pro Tag für einen Dolmetscher, ein Interview mit einem Fabrikdirektor kostet 200, mit dessen Stellvertreter 100 Dollar.
"Sie haben MiG-Bomber und Panzer im Kampf gefilmt, und Sie wissen, was Benzin kostet", sagte der Pressechef der Regierung in Hanoi zu einem amerikanischen Fernsehkorrespondenten angesichts einer Rechnung von über 6000 Dollar, die der TV-Mann präsentiert bekam.

Wenn Washington ihnen nicht mit wirtschaftlicher Hilfe in großem Rahmen an die Seite tritt, werden die Saigoner im an sich reichen Südvietnam noch lange darben müssen. "Wohlstand?" sagt ein hoher vietnamesischer Beamter. "Den erlebt die Generation unserer Enkel oder ihrer Kinder."
Diese Kinder werden streng, uniform und genau nach Linie erzogen. Alle Schulbücher, die vor 1975 gedruckt wurden, sind verboten. In der alten französischen Bibliothek, deren Direktor der frühere Sicherheitsboß Von Vung Tao ist, sind nur 71 Leser zugelassen.
Die Kinder marschieren, sie üben sich im Schießen, sie bereiten sich vor, ihr Vaterland zu verteidigen. Sie wachsen heran ohne Sehnsucht nach einer anderen Welt, ohne Vergleichsmöglichkeiten, stolz, einer Rasse anzugehören, die drei große Kulturnationen - Chinesen, Franzosen und Amerikaner - besiegt hat.

Bald werden so aufgewachsene Jugendliche aus dem Süden, die jetzt in die Armee eintreten, um von Nordvietnamesen gedrillt zu werden, hart und zäh sein wie ihre Altersgenossen aus Hanoi. Noch ein paar Jahrzehnte, und Vietnam dürfte tatsächlich wiedervereinigt sein - durch einen einzigen Menschentypus.

Bis dahin wird eine ganze Generation von Gespenstern, die heute noch den Süden bevölkert und in dem neuen Regime nichts Positives sieht, verschwunden sein.
"Gibt's wirklich nichts Positives?". Auf diese Frage antwortet ein alter Freund: "Doch, doch, die Kommunisten haben meine Augen geschärft. Vor 1975 brauchte ich eine Brille, jetzt kann ich auch ohne sie sehen."

DER SPIEGEL 18/1985


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen